Die Abendsonne versinkt langsam hinterm Horizont und verwandelt den Himmel in einen orangefarben Meer. Während sich die Blumen in den letzten Sonnenstrahlen baden und der angenehme kühle Wind ihr Blätter streichelt, wandert Cyril zwischen den Beeten. Die Sirenford-Akademie besitzt viele Parkanlagen, aber nirgendwo ist die Vegetation so dicht und natürlich, wie im Schulgarten. Den Bäume und Sträucher in den anderen Parks wurden durch magische Werkzeuge zu schnellerem Wachstum verholfen und andere Magiewerkzeuge haben die Pflanzen in allerlei künstlerische Gestalten geformt. Dieser Garten aber wurde durch reine körperliche Arbeit und Hingabe erschaffen: Nirgendwo ist man näher an der echten Natur, als hier.
Das dichte Blattwerk und die blühenden Farben erinnern Cyril immer an seine Heimat, Greenwater County. Früher kam er regelmäßig an diesen Ort, doch in letzter Zeit hat die Anzahl seine Besuche immer mehr abgenommen.
Er findet es eigentlich Schade; Eine salzige Meeresbrise fehlt noch und er würde sich hier wie Zuhause fühlen.
Langsam steigt er die Kalksteintreppen zur Terrasse hinauf. Es als würden sich seine schmerzenden Muskeln durch die Bewegung und frische Luft zu entspannen.
Als er endlich die Terrasse erreicht, bemerkt er sofort den Boden. Laut den Gerüchten soll die Konfrontation mit dem maskierten Mann sehr blutig ausgegangen sein, doch vom besagten Blut fehlt jede Spur. Stattdessen strahlen die blauen Fliesen im orangefarbenen Licht der sinkenden Sonne.
Hier wurde aber schnell aufgeräumt…
Cyrils Blick fällt auf das geöffnete Gartentor;
Es scheint so als wäre hier nie etwas passiert.
Als wäre hier niemand eingedrungen.
Als hätte niemand den wehrlosen Selim angegriffen!
Als wäre dieses maskierte Mann nie hier gewesen…
“Sie haben wirklich alle Beweise vernichtet…”
Der Studentenrat wird Selim bestimmt behaupten, Selim hätte sich seine Wunden durch einem Unfall zugezogen. Damit könnten sie versuchen die Gerüchte in Keimen zu ersticken - aber wie viele werden ihnen wohl glauben?
“Wahrscheinlich genug.” Seufzt Cyril.
Er lehnt sich an das Geländer und lässt seinen Blick über das prachtvolle Blumenmeer schweifen. Es passieren so viele hässlige Dinge an dieser Akademie und gleichzeitig hält dieser Ort so einen schönen Anblick bereit. Es ist paradox.
“Hm?”
Etwas fällt Cyril ins Auge - oder eher Jemand:
Zwischen den Beeten sieht er etwas hellblaues hervorstechen. Für einen Moment dachte Cyril, dass es sich um eine Blume handelt, doch das blaue Dinge bewegt sich auf komische Weise. Es muss wohl eine Person sein.
Jemand von Gärtnereiklub? Das sich nach dem Vorfalls noch ein Gärtner an diesen Ort traut…
Cyril ist jetzt neugierig geworden. Er trabt die Treppen wieder hinunter und nährt sich der mysteriösen Person. Als er die Büsche schließlich beiseite schiebt kann er sie sehen: Eine junge Frau. Sie trägt die gleiche Uniform wie alle weibliche Studenten an der Akademie.
Eine Studentin also, aber was macht sie da?
Während die blauhaarige Dame einzelne Blätter raus zupft, färben sich ihre weißen Strümpfe und Handschuhe durch die braune Erde.
Sollte sie nicht etwas… Passenderes tragen?
“Y-yo!” Cyril nimmt eine Hand aus der Hosentasche und grüßt die Dame… Doch die Studentin scheint ihn nicht zu bemerken. Ihre grünen Augen sind weiterhin auf des Blattwerk fixiert. Ihre zusammengebundenen Haare hängen über ihre linke Schulter und wippen in der Luft, während sie mit den Knien in der Erde hockt und ihrer Arbeit weiter nachgeht.
“Uh… Hey!”
Immer noch keine Antwort.
“Hortensien.” Sagt das Mädchen schließlich,
“Ihre Gestalt ist nur eine Täuschung. Eine Farce. Diese Zuchtform besitzt unfruchtbare Blüten. Komisch, oder?”
“Huh?”
Hortensien? Cyril hat keine Ahnung worüber sie redet.
Die Studentin hebt ihren Kopf und schaut dem Mann neben ihr zum ersten Mal ins Gesicht.
“Guten Abend Cyril.”
Ihr Blick wirkt sanft und ihre Augenlider hängen tief. Obwohl ihr Gesicht vollkommen ausdruckslos ist, strahlt ihr Anblick eine gewisse Wärme aus. Es wirkt für Cyril irgendwie vertraut.
“H-hi… uh…”
Obwohl sie so vertraut wirkt, kennt er ihren Namen nicht. Aber die Dame scheint das bereits erkannt zu haben:
“Ah, du hast ihn vergessen. Meinen Namen. Natürlich. Damit hätte ich rechnen sollen.”
Was soll das jetzt heißen?
“Ich bin Isabell. Isabell Arkwright”
Das Mädchen namens Isabell steht auf und klopft sich den Dreck von der Kleidung. Die braune Erde ist mittlerweile tief in die Fasern ihrer Uniform eingedrungen und lässt sich so gut wie gar nicht abklopfen.
Cyril betrachtet das sonderbare Mädchen. Er steckt seine Hand schließlich wieder zurück in seine Hosentasche und sagt zögerlich:
“Hör mal Isabell, solltest du nicht für diese Gartenarbeit etwas Anderes tragen?”
“Hm? Findest du?” fragt Isabell überrascht und betrachtet ihren Faltenrock, der noch von allen Kleidungsstücken noch am saubersten ist.
“Uh, ist auch egal-” erwidert Cyril.
“Hosentaschen.”
“Was?”
Isabell zupft weiterhin an ihrem Rock.
“Ich wünschte diese Uniform hätte Taschen, wie deine…”
“A-ah…”
Warum wechselt sie das Thema? Was für ein seltsames Mädchen…
Eigentlich wollte Cyril fragen, warum Isabell weiterhin in diesem Garten arbeitet, aber sie scheint keine Person zu sein, mit der man ein anständiges Gespräch führen kann…
“I-ich muss… Ah!”
Da viel es Cyril wieder ein: Es muss noch mit Professor Wagner über das Projekt sprechen! Sudri hatte ihn doch heute Morgen darum gebeten! Nach der Prügelei und seiner Wanderschaft im Schulgarten ist soviel Zeit vergangen. Der Tag ist schon fast zuende!
“Yo Isabell, ich muss weiter!”
Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht sich Cyril um marschiert mit schnellen Schritten davon.
“Cyril,” ruft Isabell in einem sanften Ton, “Kannst du mir einen Gefallen tun und morgen früh wieder hierhin kommen? An diesen Garten.”
“Huh?”
Cyril dreht sich wieder um.
“Noch bevor er anfängt. Der Unterricht. Ich werde hier warten.”
“W-was? Aber warum?”
“Du willst doch mehr über ihn wissen, oder? Den maskierten Mann.”
“-!”
Eine Schock schießt durch Cyrils Körper, als würde er einen erneuten Schlag von Declans Astraphobia abbekommen. Tatsächlich hegt Cyril insgeheim den Wunsch mehr über diesen Maskenmann zu erfahren, aber das hatte er immer für sich behalten. Nichteinmal Sudri weiß davon.
“Woher weißt du davon? Also, dass ich ihn treffen will?”
Die Mundwinkel der blauhaarigen Studentin heben sich. Zum ersten Mal sieht Cyril in ihrem sonst ausdrucksloses Gesicht ein sanftes Lächeln.
“Ich werde dir alles erzählen. Was hier passiert. An dieser Schule. Du musst nur morgen Früh hierhin kommen.”
Was meint sie damit?
Was hat sie vor?
Ist das eine Falle?
“I-ich gucke, ob ich Zeit finde…”
Das fühlt sich falsch an! Aber ich will wissen, wer dieser Mann ist. Was ihn bewegt.
“Du wirst ihn treffen. Den maskierten Mann”
“Wa-?”
“Er wird hier sein. Morgen Früh.”
Unmöglich! Ich dachte er will sich im Verborgenen aufhalten. Niemals würde er einem anderen Schüler seine echte Identität zeigen… oder?
Doch… Was hat Cyril am Ende zu verlieren? Er hat das Gefühl, dass er Isabell vertrauen kann. Sie verhält sich zwar seltsam, aber in ihren Worten steckt Ehrlichkeit.
Cyril seufzt.
“Okay, ich komme morgen Früh hier hin und wehe du lügst mich an!”
“Danke Cyril, bis morgen.”
“Y-yo…”
Cyril dreht sich perplex um. Er kann nicht glauben, dass sich ihm gerade solch eine Möglichkeit offenbart. Wenn er diesen Maskenmann trifft… Vielleicht könnte Cyril ihm bei dem Kampf gegen den Studentenrat unterstützen. Aber wie soll er das machen? Jemand wie Cyril - Jemand der keine Lacrima besitzt - ist nutzlos…
Nein! Das ganze Nachdenken bringt nichts! Er lässt es morgen einfach auf sich zukommen!
“Uh…”
Die ganze Sache mit Isabell hat ihn total abgelenkt.
Was wollte er nochmal machen?
“Oh scheiße! Der Professor und das Projekt!”
Wie der Wind saust Cyril den Garten hinunter. Von den Schmerzen in seinen Muskeln fehlt jede Spur. Es scheint so als hätte ihm das Treffen mit Isabell neue Kräfte verliehen.