In der weißen Unterkunft existiert schon seit Jahren die Geistergeschichten über eine Putzfrau, die in besagter Unterkunft in eine Toilette gefallen und ertrunken sei. Noch heute soll man an manchen Nächten in den Fluren noch hören können, wie ihr ruheloser Geist nach Luft schnappt.
Auch Sudri wird gerade Zeugin von diesem Phänomen. Sie hatte ihr Zimmer gerade verlassen, als sie das Schnaufen und Japsen im leeren Flur hört.
Ist das wirklich der wandernde Geist der Putzfrau oder spielt ihr jemand einen Streich? Schließlich sind alle Studentinnen in ihren Zimmern und schlafen. Sudri sollte zu solch einer Uhrzeit nicht mehr unterwegs sein. Andrerseits muss sie noch dringend etwas erledigen und kann jetzt nicht mehr umdrehen. Notfalls wird sie sich verteidigen müssen - Aber wie verteidigt man sich gegen einen Geist? Kann man Geister schlagen? Vielleicht wäre Diplomatie die Lösung. Vielleicht kann man mit dem Geist über dessen Probleme reden oder irgendwas in der Richtung…
Die Geräusche werden lauter. Irgendetwas nährt sich Sudri.
“H-hallo?” Sie ruft vorsichtig in den dunklen Flur, doch bis auf das schwere Atmen ist keine Antwort zu hören.
Diplomatie ist fehlgeschlagen. Wir wechseln zum Angriff!
Doch bevor Sudri ihre gewalttätige Seite entfesseln kann, tritt eine Studentin aus der Dunkelheit hervor.
“Uff-uff… S- Sudri… Uff-uff… H-Hallo…”
Sudri kennt das Mädchen nicht, aber sie scheint ihre bekannt zu sein.
“G-guten Abend… Was machst du da?” Sudri betrachtet den riesigen Sack, den die Studentin mit sich schleppt. Er entspricht mindestens dem doppelten ihrer Größe und scheint auch entsprechend schwer zu sein. Kein Wunder, dass sie so aus der Puste ist.
“Uff-uff… Ha…” das Mädchen scheint langsam wieder richtig reden zu können.
“Entschuldige, ich glaube wir haben noch nie zuvor miteinander geredet. Ich heiße Emma Hearthwell, ich wohne in der gelben Unterkunft.”
Deswegen kam die Studentin Sudri nicht bekannt vor, aber was macht Emma dann in der weißen Unterkunft?
“Freut mich Emma… Uhm… Was machst du hier und was ist… das?” Sie zeigt auf den riesigen Sack den Emma am Boden entlangzieht.
“Oh, das…” Die Studentin guckt auf den Beutel mit einem wehmütigen Blick. Sie hat ganz offensichtlich keine Kraft und Lust mehr, den Transport fortzusetzen.
“Das ist Teil meiner Projektarbeit- Oh, aber der Professor hat mir gesagt, dass ich keinem davon erzählen darf, tut mit Leid!” Emma wirft Sudri ein erschöpftes Lächeln entgegen.
“Projektarbeit? Von welchem Professor denn?”
Vielleicht von Professor Wagner?
“Das darf ich leider nicht erzählen.”
“Und wohin willst du damit?”
“Das darf ich auch nicht erzählen.”
“Und bis wann muss das erledigt sein?”
“Das- Ich glaube das darf ich erzählen, oder…?” Emma guckt nachdenklich, als würde sie versuchen die Tiefen ihrer Erinnerungen zu erreichen.
“Jedenfalls muss ich das heute noch abliefern. Ich muss also dringend weiter!”
Angestrengt festigt sich wieder Emmas Griff am Sack und sie setzt ihre mühselige Reise fort.
“Uff-uff…”
“E-Emma, kann ich dir dabei helfen?”
Eigentlich hat Sudri keine Zeit dafür, aber Emmas Anblick ist unerträglich.
“N-nein, geht schon. Wenn Professor Wagner herausfindet, dass man mir geholfen hat, kriege ich möglicherweise keine Zusatzpunkte mehr. Uff-uff…”
Und da verschwindet Emma wieder in der Dunkelheit der Nacht. Das einzige was bleibt ist das Schnaufen, dass einer ertrinkenden, alten Frau ähnelt.
Sudri richtet ihre Brille:
“Professor Wagner also…”
Laut Emma ist heute die Deadline. Das heißt also, dass Cyrils Anfrage für die Projektarbeit wahrscheinlich zu spät kommt. Hoffentlich hat er trotzdem Professor Wagner darauf angesprochen. Sudri und Cyril hatten schon vor Wochen beschlossen den Professor bezüglich einer Projektarbeit auszufragen, aber Cyril hat es damals wie erwartet vergessen.
Hoffentlich war er beim Professor… Sonst könnten wir wirklich zu spät sein…
Ob es geklappt hat wird sie wohl erst morgen erfahren. Sie richtet ihre Schritte in die Richtung aus der Emma kam und verschwindet ebenfalls in der Dunkelheit.